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Versteckt
sitzt sie im Schilf, ihr grün blauer Fischschwanz spielt mit
dem Wasser, formt kleine Kreise, die sich immer größer
werdend ausbreiten, bis hin zum anderen Ufer, um dort spurlos zu verschwinden.
Wucherndes Grün verwischt die scharfen Umrisse des Kanalbettes.
Erstaunlich, in wie vielen Farben das Wasser variiert, und wie viele
Kompositionen von Grün es gibt. Der Kanal strahlt Ruhe und Frieden
aus. Wie Ailla dieses Gewässer liebt.
Das Knallen einer Autotür lässt sie unmutig den Kopf
heben. Nervös kräuseln sich Wellen um ihre Schwanzflosse.
Aufgeschreckt hüpft ein Frosch aus dem Schilf ins Wasser. Mit
kräftigen Stößen schwimmt er, zuerst noch aufgeregt,
dann zielsicher den Seerosen entgegen, um sich dort unter
einem Blatt, in perfekter Tarnung zu verbergen.
Stimmen schallen zu Ailla herüber, einzelne Gesprächsfetzen
jedoch lassen sie jäh aufhorchen. Angst erfasst sie bei dem,
was sie nun vernimmt.
Ailla lässt sich ins Wasser gleiten und schwimmt rasch und
lautlos am Ufer entlang, wie durch eine Allee, die irgendwo beginnt
und irgendwo endet. Nur hin und wieder, für einen kurzen Moment,
blinkt ihr Fischleib silbern auf.
Fast ist sie am Ziel. hier nun beginnt die schwierigste Aufgabe,
die Umwandlung zum Menschen. Eine Stunde hat Ailla Zeit, innerhalb
dieser muss sie in ihr Element zurückkehren. Sie lässt
sich auf den Grund des Kanals hinabsinken und spricht:
"Liebe, Demut und Genügsamkeit,
sie sind die drei Schätze weit und breit.
Neptun gib mir die Kraft,
für eine Stunde mich zum Menschen mach!"
Ein wunderschönes Mädchen entsteigt nun dem Kanal und
nur wenn man genau hinsieht, kann man zwischen den Fingern die zarten
Schwimmhäute entdecken. Zuerst noch etwas unsicher, doch dann
mit der Leichtfüßigkeit einer Elfe läuft sie in
den Wald hinein, ihrem Ziel entgegen.
An den Stamm einer Kiefer gelehnt, sieht sie ihn sitzen. In der
Hand hält er eine Waffe, die er nun an die Schläfe führt,
um sich seiner Krankheit nicht hilflos zu ergeben.
Leise, Schritt für Schritt, bewegt sie sich auf ihn zu, sie
berührt leicht seine Schulter. Sein Arm sinkt zurück,
er Öffnet die Augen. Noch nie hat er ein Mädchen von solcher
Schönheit und Anmut gesehen. Das Sonnenlicht schenkt ihrem
Haar einen Goldton, ihr Kleid glänzt silbern.
In ihren Augen sammeln sich Tränen. Sie beugt sich zu ihm
hinunter und spricht: "Halte deine Hände auf, schließe
deine Augen und glaube voller Zuversicht an deine Heilung. Kein
einziges Wort darf über deine Lippen kommen. Öffne deine
Augen erst wieder, wenn die Sonne untergegangen ist."
Er fühlt, wie ihre Tränen seine Hände benetzen, wie
sie sich langsam verfestigen, bis sich zwei runde Steine gebildet
haben. Seine Finger umklammern die "Meermädchentränen",
halten sie fest. Unbeweglich bleibt er sitzen, bis er weiß,
dass die Sonne untergegangen ist.
Nebel steigt vom Wasser auf, zarte Schleier schweben über
Ailla, weben sich dichter und dichter, verschlucken alle Umrisse,
bewahren die Stille und das Geheimnis.
Ailla ist wieder heimgekehrt.
Wenn Du einmal am Kanal spazieren gehst und dir fallen zwei ebenmäßig
geformte Steine auf, dann weißt Du, dass das Meermädchen
hier war.
Sylvia Reißnecker
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